Nachhaltigkeit in der Versicherung
„Nachhaltigkeit“ zählt zu den Buzzwords der letzten Jahre: Was bedeutet Nachhaltigkeit für eine Versicherung? Wie nachhaltig kann eine Versicherung sein – im Produkt und im Betrieb? Dr. Martin Creutz, Bereichsleiter für Produktentwicklung und Marktmanagement bei der Provinzial Versicherung, teilt im Interview seinen Blick auf das Thema Nachhaltigkeit.
Hans-Peter Holl: Hallo Martin, wir wollen heute über Nachhaltigkeit in der Versicherungsbranche sprechen. Mit der Naturkatastrophe im vergangenen Jahr haben die Themen Klimawandel und Nachhaltigkeit Aufwind bekommen: Wir hatten einen richtigen, heftigen Einschlag im Ahrtal mit dem Sturmtief Bernd. Was ziehst du für Rückschlüsse daraus?
Dr. Martin Creutz: Neben der Corona-Pandemie war die Hochwasserkatastrophe sicherlich ein zentrales Gesprächsthema des vergangenen Jahres. Letzteres ist ein Ereignis, das – behaupte ich mal – niemand in dieser Dimension auf dem Schirm gehabt hat.
Eine solche Wetterlage haben wir, in dieser Region, noch nicht gesehen. Mehrere größere, mittlere und kleinere Fließgewässer waren nach einem regenreichen Juni einfach nicht mehr in der Lage, die Regenmengen großer Wolkenbrüche zu verarbeiten. Über 180 Menschen haben in dieser Katastrophe ihr Leben verloren. Zwei werden, soweit ich weiß, noch immer vermisst. Das mag man sich kaum vorstellen.
Auch aus Sicht eines Versicherungsunternehmens sind die Auswirkungen immens. Die Schadenszahlungen sind hoch. Der Gesamtverband der Versicherungswirtschaft rechnet mit fast 9 Milliarden versicherten Schäden. Das ist nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa, das größte Schadenereignis der letzten Jahre. Zum Vergleich: Bei der Oder-, oder Elbe-Flut, sprechen wir von einer Schadenhöhe von knapp der Hälfte. Oder nehmen wir mal ein Sturmereignis wie Kyrill im Jahr 2007. Hier liegen wir bei dreieinhalb, vier Milliarden Schadenzahlung. Die Tragweite und die Zerstörungskraft, die wir 2021 erlebt haben, hat ein ungeahntes Ausmaß eingenommen. Ich hätte mir das in diesem Ausmaß nicht vorstellen können. Die Folgen werden wir noch über Jahre hinweg spüren. Nicht nur in der Versicherungstechnik, sondern vor allem in den betroffenen Gebieten.
Lieber hören statt lesen? Das Interview gibt es auch als Podcast-Episode:
Nachhaltigkeit in den Versicherungsprodukten
Hans-Peter Holl: Hoffen wir, dass sowas nicht so schnell wieder passiert. Wir sind nun schon mittendrin im Thema Nachhaltigkeit und wie sich Nachhaltigkeit auf die Versicherungsindustrie auswirkt. Wie nachhaltig sind denn deiner Meinung nach die Produkte in der Versicherungswirtschaft?
Dr. Martin Creutz: Nehmen wir mal die Wohngebäudeversicherung. Vor dem Hintergrund von mehreren hunderten völlig zerstörten Häusern, übrigens nicht nur an der Ahr, sprechen wir hier von einer gleitenden Neuwertversicherung. Was heißt das? Das ist das Leistungsversprechen der Versicherer, das bei Totalschäden Gebäude wieder so aufgebaut werden, wie das angesichts geltender Energieeinspar-Vorschriften und behördlicher Auflagen erforderlich ist. Da gibt es dann entsprechende Komponenten, die bei der Wiederherstellung zu beachten sind. Beispielsweise ist das Haus entsprechend zu dämmen. Und damit ist das Produkt meiner Überzeugung nach nachhaltiger, als viele es gemeinhin vermuten. Dieses Produkt bieten Versicherer heute bereits an. Nicht nur die Provinzial Versicherung.
Was Nachhaltigkeit überhaupt bedeutet
Hans-Peter Holl: Das heißt, die Versicherungsindustrie hat sich auf dieses Thema eingestellt und bietet entsprechende Produkte an, die man durchaus als nachhaltig betiteln kann?
Dr. Martin Creutz: Ich glaube man kann in unterschiedlichen Versicherungsprodukten und unterschiedliche Sparten „Nachhaltigkeit“ finden, denn der Begriff ist vielschichtig besetzt. Nachhalten heißt erst einmal, ich prüfe, ob alles in Ordnung ist. Das ist eine Form von Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit ist aber auch, so zu leben, dass für nachfolgende Generationen ausreichend Ressourcen vorhanden sind. D.h. Ich muss jetzt so handeln, dass unser Planet auch künftig lebenswert bleibt. Ich glaube, man muss die Produktlandschaft der Versicherungsunternehmen vor allem hinsichtlich des zweiten Punktes beleuchten.
Was Kunden erwarten
Hans-Peter Holl: Wie sind denn die Erwartungen der Kunden? Fragen die Kunden bereits nachhaltige Versicherungsprodukte an?
Dr. Martin Creutz: Versicherung ist ja meist ein eher unliebsames Thema, mit dem man sich, ähnlich wie Arztbesuchen, nicht so gerne beschäftigt. Aber es ist notwendig, dass man es tut.
Die Grundidee einer jeden Versicherung ist ein Präventionsgedanke. Es geht darum durch eine bestimmte Routine und Vorsorge einen Wert zu erhalten. Insofern sehe ich ein solches Katastrophenereignis, wie wir es erleben mussten, als Impuls. Es schafft Bewusstsein. Es zeigt, dass eine Versicherung nicht nur meinem Sach- oder Vermögensschutz dient, sondern auch zum Erhalt gesellschaftlicher Infrastruktur und zur Stabilität von Prozessen einen Beitrag leistet.
Lass mich das konkretisieren: Wichtig ist nach so einem Ereignis, zügig wieder in Tritt zu kommen. Als Gewerbetreibender, der seinen Betrieb verloren hat, muss ich möglichst schnell meinen Betrieb wieder aufnehmen können, um nicht nur meinen eigenen Lebensunterhalt zu erwirtschaften, sondern auch anderen wieder Beschäftigung zu geben. Dazu muss ich in eine andere Betriebsstätte ausweichen können, neue Maschinen anschaffen. Da braucht es schnelle finanzielle Hilfe – und die ist im Ahrtal von den Versicherern gekommen.
Wir haben das in dem oder anderen Presseartikel schonmal anklingen lassen: Wir rechnen im Moment mit der Regulierung von rund 40.000 Schäden im Bereich Kfz, Wohngebäude und Inhalt bei privaten, gewerblichen und industriellen Kunden. Das wird sich belaufen schätzungsweise in einer Größenordnung von etwa 1,4 bis 1,5 Milliarden und davon sind bereits 600 Millionen an die Kunden geflossen.
Nachhaltigkeit im Versicherungsbetrieb
Hans-Peter Holl: Wenn wir die Versicherungsunternehmen jetzt mal per se betrachten: Letztendlich sind Versicherungen Dienstleistungsunternehmen. Das Produkt ist virtuell. Wie können sich Versicherer überhaupt für Nachhaltigkeit einsetzen?
Dr. Martin Creutz: Ich muss versuchen, so ressourcenschonend wie möglich, zu arbeiten. Und das fängt bei den eigenen Prozessen an. Hier gibt es meiner Meinung nach an unseren Schnittstellen und Strukturen im Tagesgeschäft noch das ein oder andere zu verbessern. Wir sind noch ein sehr „papierlastiger Laden“. Der Versicherungsverband hat – wenn ich mich recht erinnere – festgestellt, dass wir pro Kunde, pro Mitarbeiter 105 Kilo Papier produzieren. Würden wir da ein bisschen abnehmen und vielleicht auf schlanke 80 oder 75 kommen, stünde uns das gut zu Gesicht.
Hans-Peter Holl: Hauptaugenmerk liegt also in der nachhaltigen Versicherungsindustrie auf der Papiererzeugung? Gibt es noch weitere Aspekte?
Dr. Martin Creutz: Ja, das zum einen. Zum anderen die energetische Versorgung der Gebäude. Da sind wir mit den Verwaltungsgebäuden genauso in der Pflicht, wie jeder Eigenheimbesitzer auch. Es gilt zu prüfen, wie meine Energieversorgung ausgelegt ist und wie ich nachhaltiger werden kann. Das bedeutet für uns, dass wir möglicherweise mittel- und langfristig in Fotovoltaik oder in Windkraft investieren. Ich glaube, man muss sich an dieser Stelle von konventionellen Pfaden ein Stück weit verabschieden und Rahmenbedingungen schaffen, in denen man Nachhaltigkeit und das Interesse am eigenen Wirtschaften gut übereinanderlegen kann.
Nachhaltigkeit und die Rolle der Versicherungs-IT
Hans-Peter Holl: Windkraft und Fotovoltaik sind gute Stichworte. In dieser Richtung wird es sicherlich auch neue Versicherungsprodukte geben. Was muss hierfür die IT leisten? Ist diese vorbereitet, um neue Produkte in der Geschwindigkeit, die ihr braucht, auf den Markt zu bringen?
Dr. Martin Creutz: Das ist tatsächlich kein so einfaches Unterfangen. In Versicherungsunternehmen treffe ich auf eine etablierte Systemlandschaft mit hoher Stabilität. Man erwartet von uns, dass wir alle Vertragsdaten so aufbewahren, dass man diese jederzeit nachvollziehen kann. In der Lebensversicherung ist das bei den Langläufern ohnehin verpflichtend. Aber auch bei einem Kunden in der Sach- oder Krankenversicherung ist es sehr wichtig, die Genese eines solchen Vertrages oder Betriebes sauber zu dokumentieren. Und das kann mit dem Produkt in Konflikt stehen, was ich gerne neu an den Markt bringen möchte.
In den Frontends gelingt mir die Umsetzung dabei meist gut. Aber ich muss ja die gesamte TAA-Strecke anpassen, wenn ich ein neues Versicherungsprodukt einführe. In der Risikoprüfung sollte am besten eine digitale Prüfung integriert sein, so dass der Vertriebspartner selbst sagen kann: Ich kann dir, lieber Versicherungsnehmer, direkt eine entsprechende Deckungszusage zusichern. Wir können den Versicherungsvertrag hier und heute abschließen. Das wäre idealtypisch. Und wenn am Ende noch nicht mal mehr Papier verschickt werden muss, sondern der Versicherungsnehmer eine entsprechende digitale Form der Identifizierung und der Unterschrift nutzen kann, dann würden wir das begrüßen. Aber das ist eben im Tagesgeschäft nicht so trivial. Zumal so eine Strecke auf unterschiedliche Kontaktpunkte ausgerichtet sein muss. Da ist die Forderung leichter gestellt als in der Praxis umgesetzt.
Hans-Peter Holl: Aktuell sind viele Versicherer dabei, ihre Vertriebs-, Bestands- und Schadensysteme zu modernisieren. Das ist ein Riesen-Schritt mit einem hohen Risiko – dessen muss man sich bewusst sein – aber am Ende des Tages unerlässlich, um zukunftssicher zu werden.
Dr. Martin Creutz: Das stimmt. Aber es gibt dabei Bedrohungspotential. Ich denke da konkret an die Bedrohungssituation der letzten Wochen mit der Sicherheitslücke log4j: Das hat Systeme unterschiedlichster großer und kleinerer Unternehmen heftig getroffen. An Stellen, an denen man das gar nicht vermutet hätte.
Das Thema Sicherheit spielt eine immer größere Rolle. Je anonymer und elektronischer ein System wird, umso schwieriger ist es zu kontrollieren. Der Schutz unserer Systeme und Prozesse sind für uns ein ganz wichtiger Punkt: Sie sind die Basis für unseren Geschäftsbetrieb. Wir müssen sicher sein können, dass dieser stabil läuft. Wir müssen uns darauf verlassen können, unsere Kunden, die sensible Daten an uns weitergeben, genau so wie unsere Mitarbeitenden auch.
Regulatorik: Turbo oder Hemmschuh für nachhaltiges Handeln?
Hans-Peter Holl: Bereitet uns vielleicht gerade ein bisschen den Weg zum letzten Kapitel: Regulatorik. Hilft die Regulatorik in Deutschland, in Europa, Versicherern den Weg zu mehr Nachhaltigkeit zu beschreiten oder ist diese eher hinderlich?
Dr. Martin Creutz: Ich mache mal eine kurze Replik und erinnere an Solvency II. Und jeder, der beruflich damit mal zu tun gehabt hat oder unternehmerisch damit in Berührung kommt, wird möglicherweise nachvollziehen können, warum da keine Begeisterung aufkommt. Die Behörden, speziell in Europa, neigen dazu, Dinge zu „überregeln“, zu überfrachten. Damit generieren sie eine vermeintliche Scheinsicherheit: Man glaubt, mit einem solch engmaschigen Netz aus dokumentieren, protokollieren und nachhalten wird man der Bedrohung Herr. Ich glaube, dass das ein Stück weit zu kurz gegriffen ist: Wir produzieren sehr viele Dinge, die überhaupt nichts mit Nachhaltigkeit zu tun haben, sondern am echten Bedarf vorbeigehen. Es fehlt die dynamische Anpassung an eine sich entwickelnde Gesellschaft und Systeme.
Ich fände es sehr schade, wenn Eiopa mit den Vorgaben, oder auch das Bundesaufsichtsamt für Finanzdienstleistungen, uns wieder in ein Korsett zwingt, dass uns in einen ähnlichen Dokumentierungswahn hineinführt. Das sehe ich als großes Hemmnis. Die große Gefahr, die ich sehe, ist, dass man eigentlich nur damit beschäftigt ist, Formulare auszufüllen, um irgendwas nachhaltig zu machen. Und bis diese Genehmigung durch ist, ist das eigentliche Thema schon vorbei. So notwendig, sinnvoll und unerlässlich Kontrollmaßnahmen sind – ich habe ja nun gerade für Sicherheit an anderer Stelle geworben – fehlt manchmal das richtige Maß.