Von der klassischen Dunkelverarbeitung zu intelligenter Prozessautomatisierung
Wer die Versicherungsbranche heute noch als tradiert und rückständig in Bezug auf Big Data, Digitalisierung oder KI wahrnimmt, kennt sie schlecht oder schreibt von anderen ab. In Wirklichkeit hat die Branche in den letzten beiden Jahrzehnten viel unternommen, um die Vorteile ihres auf Daten basierenden Geschäftsmodells zu nutzen. Dennoch gibt es weiterhin ein großes Automations- und Effizienzpotenzial. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist dabei, in Intelligent Process Automation (IPA) zu investieren. Dabei ist KI Teil der Lösung, aber kein Allheilmittel.

„Der von der Versicherungsbranche eingeschlagene Weg ist vielversprechend, es bieten sich aber noch weitere Chancen.“ |
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Ein Blick in den Rückspiegel: Von Dunkelverarbeitung zu intelligenter Prozessautomatisierung
Auch wenn Versicherungen im Privatkundengeschäft ein stark standardisiertes Geschäft mit weitgehend standardisierten Daten betreiben, waren 2023 lediglich 33 % der Prozesse im SHUK-Bereich, 32 % der Prozesse im Kranken-Bereich und nur knapp 14 % der Prozesse im Leben-Bereich vollständig automatisiert (Dunkelverarbeitung). Der Anteil der dunkel verarbeiteten Prozesse ist im Vergleich zu 2015 im SHUK-Bereich um über zehn Prozentpunkte (2015: 23,3 %, 2023: 33,5 %) gestiegen, im Leben-Bereich um über vier Prozentpunkte (2015: 9,4 %, 2023: 13,7 %), und im Kranken-Bereich um knapp 14 Prozentpunkte (2015: 18,5 %, 2023: 32,3 %).[1] Die sogenannten „low hanging fruits“ sind geerntet, insbesondere dort, wo Prozesse eine hohe Standardisierung aufweisen. Auch über die „low hanging fruits“ hinaus besteht großes Potenzial, jedoch auch ein gewisser Automatisierungsdruck. Welche Vorteile bietet intelligente Prozessautomatisierung, wo liegen typische Herausforderungen? Das beleuchten wir in diesem Beitrag.
Warum gerade jetzt der Automationsdruck höher wird
In der Vergangenheit wurde neben dem Versicherungskerngeschäft (Prämieneinnahmen vs. Schadenzahlungen) häufig die Effizienz zurate gezogen, um Kostenvorteile gegenüber den Wettbewerbern zu begründen. Heute treten andere Gründe in den Vordergrund, warum die Branche ihre Automationsquoten weiter steigern sollte – oder sogar muss.
So viel zu den Gründen, warum es für Versicherer unabdingbar ist, die Automationsquoten weiter zu steigern. Gleichzeitig bieten die in den letzten Jahren sprunghaft mächtiger gewordenen KI-Modelle, insbesondere im Bereich generativer KI und der sogenannten Large Language Models (LLM), zahlreiche Chancen. Da Versicherungen ein nativ datenbasiertes Geschäftsmodell haben, lassen sich viele ihrer Prozesse – von der Risikobewertung bis zur Schadenbearbeitung – besonders gut durch KI automatisieren. Aber auch die leistungsfähigsten generativen KI-Modelle müssen gezielt mit weiteren Automatisierungslösungen kombiniert werden, um ihr volles Potenzial zu entfalten.
Um Prozesse Ende-zu-Ende zu automatisieren, kommt es vor allem auf die richtige Anwendung verschiedener Automationsmuster an.
In diesem Schaubild wird das Prinzip bereits deutlich: Ein in generische Schritte unterteilter Geschäftsvorfall wird durch verschiedene, nur beispielhaft genannte regel- und KI-basierte Automationsmuster unterstützt.
Definition: Was ist die intelligente Prozessautomatisierung (IPA)?
Intelligente Prozessautomatisierung (IPA) verfolgt das Ziel, durch den optimal abgestimmten Einsatz verschiedener Automatisierungstechnologien, insbesondere von Robotic Process Automation (RPA), Workflow-Management-Systemen und künstlicher Intelligenz, maximale Effizienz und Qualität in den Prozessen zu erreichen.
Die IPA setzt also auf einen Mix von technischen Methoden, aber auch auf ein exzellentes Verständnis, welche Automationsmuster für welche Anwendungsfälle geeignet bzw. notwendig sind.
7 wichtige Erfolgsfaktoren: Worauf es ankommt, damit intelligente Prozessautomatisierung in der Praxis gelingt
Häufig beobachten wir zum Beispiel, dass in den Häusern Abteilungen mit äußerst fähigen Daten- und KI-Expertinnen und -Experten aufgebaut werden, diese jedoch fast händeringend nach Anwendungsfällen suchen. Der Fachbereich besitzt häufig nur ein geringes Verständnis davon, welche Möglichkeiten zur Steigerung der Automationsquoten überhaupt gegeben sind und wie diese auf ihre jeweils konkreten Geschäftsprozesse angewendet werden können. Umgekehrt kennen sich Daten- und KI-Expertinnen und -Experten häufig in der konkreten Fachlichkeit und den Geschäftsvorfällen von Versicherungen nur sehr eingeschränkt aus.
Ein zentraler Erfolgsfaktor der IPA ist es daher, Business-Einheiten in die Lage zu versetzen, ihre Geschäftsprozesse hinsichtlich ihrer Automationsfähigkeit und grundlegenden Lösungsmuster zu analysieren und die jeweiligen IT-Einheiten sinnvoll damit zu beauftragen. Nur wie kann das in der Praxis gelingen?
1. Systematische Analyse der Geschäftsprozesse
Das nachstehende Schaubild kann dabei als Ansatz dienen, um die Geschäftsprozesse systematisch zu analysieren. Zentral ist die Frage bei der Analyse von Geschäftsprozessen, welchen Charakter haben Input und Output: Handelt es sich um strukturierte oder unstrukturierte Inputs bzw. Outputs?
Im Bereich der strukturierten Inputs und Outputs (zum Beispiel Antragsstrecken oder Selfservices im Kundenportal) sind bereits sehr viele vollständig dunkel verarbeitete Prozesse umgesetzt. Aber auch in diesem Schema besteht zum Teil noch gutes Potenzial für eine weitere Erhöhung der Automationsquoten.
Geschäftsprozesse, bei denen eine direkte Interaktion mit einem Host-System notwendig ist, stellen bei der Automation noch häufig eine Herausforderung dar. Es fehlen teils die Dokumentationen, wie Host-Vorgänge via API befüllt werden können, oder API fehlen komplett oder sie sind nicht mit vertretbaren Kosten zu implementieren. Hier können RPA-Bots ihre Stärken ausspielen, da sie mit den sehr stabilen Interfaces des Hosts schnell interagieren können. Dies bietet zum einen den Vorteil, dass die bisherigen Geschäftsregeln, die im Host hinterlegt sind, nicht neu implementiert werden müssen. Zum anderen müssen sich neue Sachbearbeitende nicht zeit- und betreuungsintensiv in die komplexe Bedienung des Hosts einarbeiten.
Vor allem in Backend-Prozessen im Bereich der nachgelagerten Systeme, wie zum Beispiel Finance, Provisionen oder Business Intelligence, bieten sich immer noch Chancen für eine weitere „API-fizierung“ der Kernsysteme und somit eine sehr effiziente und in den Ergebnissen stabile Automatisierung.
Generell liegen viele Daten als Ausgangspunkt für Geschäftsvorfälle unstrukturiert oder semi-strukturiert vor. Insbesondere Prozesse im Kundenservice haben als Startpunkt Kundengespräche oder Mails, in denen Daten und Informationen mitgeteilt werden, die dann in eine strukturierte Datenbasis für weitere Prozessschritte gebracht werden müssen. Hier spielt die aktuelle Entwicklung im Bereich generativer KI eine essenzielle Rolle und kann die Grundlage für eine intelligente Prozessautomatisierung legen.
Häufig sind LLM zwar in Unternehmen intern verfügbar. Allerdings sind diese nicht in die Prozess- und Servicelandschaft integriert und können somit auf Kundenanfragen nicht automatisch mit proprietären Daten reagieren bzw. diese verarbeiten. Diese Herausforderung muss in einem skalierfähigen Ansatz gelöst werden.
Während Schema 1 in den Versicherungsunternehmen überwiegend bereits eine hohe Reife besitzt, wird die breite Einsatzfähigkeit und Skalierbarkeit von Schema 2 aktuell noch vorangetrieben. Die meisten zurzeit in der Branche tatsächlich umgesetzten Automations-Cases bilden dieses Schema ab.
Dank der aktuellen Entwicklungen im Bereich von LLM können zukünftig viele Standardfragen, unter anderem in der Kundenberatung und im Kundenservice, weitestgehend automatisiert und personalisiert beantwortet werden. Hierbei kommt es darauf an, nicht nur auf der Input-Seite unstrukturierte Daten zu verarbeiten, sondern auch auf der Output-Seite (der Kundenschnittstelle) möglichst in natürlicher und einfacher Sprache mit dem Nutzer/Kunden zu interagieren.
Bislang unzureichende Kundenerlebnisse, beispielsweise aufgrund von regelbasierten FAQ-Bots mit geringer Treffsicherheit bei den Antworten, könnten durch intelligente und natürlich-sprachlich antwortende Bots flächendeckend abgelöst werden.
Damit dies möglich wird, muss zum einen die bereits beschriebene Herausforderung der Integration in die Prozess- und Servicelandschaft gelöst werden. Ist diese Hürde überwunden, müssen generische LLM-Modelle lernen, domänenspezifisches Wissen und auch proprietäre Daten korrekt zu interpretieren. Besonders vielversprechend ist in dem Zusammenhang Retrieval Augmented Generation (RAG), eine Technik zum domänenspezifischen Training von LLM durch Anreicherung mit eigenen beziehungsweise vorhandenen Daten, zum Beispiel aus den Versicherungsbedingungen oder aus Backend-Systemen.
2. Mensch und Maschine: Die Rolle vom „Human in the Loop“ in der intelligenten Prozessautomatisierung
Die drei IPA-Prozessschemata können hier nur angerissen werden. Es ist sinnvoll, sich hinsichtlich Tech-Stack, Entwicklungsprozessen und Know-how der Mitarbeitenden für die in diesen Schemata wiederkehrenden Lösungsmuster bestmöglich aufzustellen.
Aufgrund der zunehmenden Entwicklung der Schemata „unstrukturiert zu strukturiert“ (Schema 2) und „unstrukturiert zu unstrukturiert“ (Schema 3) verändert sich derzeit auch die Denkweise hinsichtlich der Einbeziehung von Menschen in die Prozesse. Während in Schema 1 überwiegend eine Dunkelverarbeitung angestrebt wird und menschliche Prozessinteraktion weitgehend ausgeschlossen werden soll, liegt es in der Natur der Sache, dass die maschinelle Textinterpretation bzw. -verarbeitung hinsichtlich ihrer Richtigkeit in Schema 2 und Schema 3 mit einigen Unsicherheiten verbunden ist. Darüber hinaus ist es oft eine Frage des abnehmenden Grenznutzens, wie weit es wirklich sinnvoll ist, Algorithmen immer weiterzuentwickeln, bis sie auch wirklich jeden Edge Case abbilden können. Der Mensch wird zum Kollegen des Bots, zu dessen Qualitätssicherer und Unterstützer.
Der sogenannte „Human in the Loop“-Ansatz bedeutet unter anderem, dass Algorithmen den Vorgang „hell schalten“, also an den Menschen abgeben, wenn sie zum Beispiel einen zu geringen Confidence-Wert (wie sicher sich die Maschine ist, dass sie mit ihrer Berechnung richtig liegt) berechnen. In solch einem Fall übernimmt Kollege Mensch von Kollege Bot und kann nach einer kurzen Einbindung in den Prozess natürlich auch wieder zurück an den Bot übergeben. |
Die für Kunden oder Nutzer reibungslose Übergabe zwischen menschlichem und maschinellem Kontakt mit hoher Qualität und möglichst ohne zeitlichen Verzug zu gewährleisten, ist ein wichtiger Erfolgsfaktor, wenn die IPA-Prozessschemata 2 und 3 erfolgreich implementiert und skaliert werden sollen. Ein weiterer wesentlicher Erfolgsfaktor ist es, die Kollegialität zwischen Bot und Mensch so zu gestalten, dass sich letzterer nicht wie ein Kostenfaktor fühlt, der dem Bot ab und an als Handlanger behilflich sein darf. Das wäre für die Motivation der Mitarbeitenden und die entsprechende Außenwirkung sicher sehr nachteilig.
3. Von „Schnellbooten“ und „Insellösungen“ wegkommen
Die Versuchung ist groß, gerade wenn man sich mit bestimmten Technologien neu befasst, zunächst mal ein „Schnellboot“ aufzubauen, gegebenenfalls mit einer externen, eingekauften Lösung. So lernt man die neue Technologie kennen und kann sie bereits nutzbringend einsetzen. Und die Nachbarabteilung baut noch ein zweites „Schnellboot“, nur mit einer selbst gebauten Lösung basierend auf einem anderen Tech-Stack. Und wenn diese Entwicklung immer weitergeht, hat man irgendwann viele Insellösungen, mit Abteilungsleitern, die jeweils ihre Lösung für den zukunftsweisenden Weg halten. Es kostet sehr viel Zeit und Energie, diese vielen „Insellösungen“ wieder zu einem gemeinsamen und skalierfähigen Ansatz zusammenzuführen. Es ist nichts gegen einen Proof of Concept einzuwenden, jedoch sollte die Enterprise- und IT-Architektur frühzeitig eingebunden werden, damit „Insellösungen“ so weit wie möglich vermieden werden. Stattdessen sollten skalierfähige Entwicklungsplattformen mit einem weitgehend einheitlichen Tech-Stack aufgebaut werden.
4. Business und IT in IPA Communities zusammenbringen
Wo noch nicht geschehen, sollten Versicherer IPA Communities aufbauen. Business und IT schaffen zusammen ein gemeinsames Verständnis von Potenzialen und Anwendungsfällen. Die Communities müssen nicht notwendigerweise explizit in der Organisation verankert sein und können erst mal informell starten. Wichtig ist die übergreifende Zusammenarbeit von Business und IT.
5. Governance und Organisation für IPA weiterentwickeln
In einer weiteren Entwicklungsstufe sollte auch für IPA eine explizite Governance und Struktur geschaffen werden. Mit klar definierten Rollen und Verantwortlichkeiten, mit hoher Datenqualität und skalierfähigen Entwicklungsplattformen wird die Grundlage für intelligente Automatisierungen hergestellt.
6. Compliance beachten
Insbesondere in der hoch regulierten Versicherungsbranche ist immer ein besonderes Augenmerk auf Compliance zu legen. In den letzten Jahren sind hier insbesondere die Vorschriften von VAIT, DORA oder EU AI Act zu nennen, die für IPA-Vorhaben relevant sind.
7. Change Management mit Wertschätzung umsetzen
Last but not least benötigt es ein konsequent mit Management-Unterstützung und Budget ausgestattetes Change Management, das Veränderungen wertschätzend kommuniziert und zum Beispiel Ängste bezüglich eines möglichen Jobabbaus nimmt. Mehr noch, Automation bedeutet in den allermeisten Fällen Job Enrichment, Kollege Bot macht die Sachen, die ich nicht gerne mache, und ich habe endlich Zeit für Themen, die meinen Qualifikationen und Neigungen wirklich entsprechen.
Lassen Sie sich individuell beraten
Quellenverzeichnis
[1] GDV (2024). Wie die Versicherer ihre Prozesse zunehmend automatisieren.
[2] IT Finanzmagazin (2024). Kunden erwarten schnellere Schadensbearbeitung von Versicherern.
[3] Capgemini (2024). World Life Insurance Report 2025.
[4] Huthmacher, R. (2023). Finanzbranche muss Personalmarketing neu aufstellen.
[5] Statistisches Bundesamt (2025). Demografischer Wandel.
[6] cash-online (2019). „Zu langweilig“: Versicherer nur selten Wunscharbeitgeber.
[7] Handelszeitung (2023). Versicherungsbranche: Fachkräftemangel ist überdurchschnittlich.
Mitgewirkt an diesem Artikel haben:
- Noah Hennes, Senior Consultant
- Benjamin Scholz, Consultant